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Der deutsche Sozialstaat ist flexibler als man glaubt


von Marie-Luise Hauch-Fleck und Wolfgang Hoffmann

 

Schon seit mehr als einem Jahrzehnt haben die Politiker die Sozialsysteme in Deutschland gestutzt. Doch Arbeitslosigkeit und Wiedervereinigung zwingen zu weiteren Einschnitten

Otto Graf Lambsdorff wußte es schon 1982: Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar. Der FDP -Wirtschaftsminister der sozialliberalen Koalition lieferte auch gleich einen umfangreichen Streichkatalog für Renten-, Arbeitslosen- und Krankenversicherung mit. Der schien den Sozialdemokraten allerdings so grausam zu sein, daß das sogenannte Lambsdorff-Papier als Auslöser für den Bruch der ohnehin freudlos gewordenen sozialliberalen Partnerschaft im Herbst 1982 gilt. Seither regieren die Freidemokraten in Bonn mit der CDU /CSU.

Heute wird wieder einmal quer durch die Republik das Totenglöcklein für den deutschen Sozialstaat geläutet. Die Diagnose der Experten ist dabei fast ebenso populär wie einseitig. Ausuferndes Anspruchsdenken, Gefälligkeitsdemokratie und daraus resultierende Reformunfähigkeit haben die Kosten für soziale Sicherheit in schwindelnde Höhen getrieben, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Unternehmen untergraben und als Folge davon das Heer von über vier Millionen Arbeitslosen mitverschuldet.

Dabei wird stets unterstellt, Sozialpolitik bestehe in der Bundesrepublik ausschließlich darin, das soziale Netz mit viel Geld enger zu knüpfen. Als Beleg für ihre These verweisen Arbeitgeber sowie liberale und konservative Politiker auf die steigenden Beiträge der Sozialversicherung. Tatsächlich würde der Rentenbeitrag von gegenwärtig 19,2 Prozent im kommenden Jahr ohne Gegenmaßnahmen auf 20 Prozent steigen. Bereits Anfang Juli klettert der Satz für die Pflegeversicherung von ein auf 1,7 Prozent - sollte sich die Koalition nicht doch noch entschließen, die Einführung der Pflegeversicherung zu vertagen. Auch in der Arbeitslosenversicherung ist eine Beitragsentlastung wenig wahrscheinlich, im Gegenteil: Sind im Jahresdurchschnitt mehr als 3,5 Millionen Menschen arbeitslos, wird auch bei der Bundesanstalt für Arbeit wieder das Geld knapp. Der Bundesfinanzminister müßte dann erheblich mehr als die geplanten 4,3 Milliarden Mark nach Nürnberg überweisen. Oder die Beiträge erhöhen und/oder weiter Leistungen kürzen.

Doch was aussieht wie eine hausgemachte Krise des Sozialstaats, hat kaum mit dem Ausbau der Sozialleistungen zu tun. Die eskalierenden Finanzprobleme sind vielmehr überwiegend eine Folge der Wiedervereinigung Deutschlands.

Das westdeutsche Sozialsystem alleine hätte auch den Konjunkturabschwung bewältigen können - hätte die christlich-liberale Regierung den Beitragszahlern, das heißt den versicherten Arbeitnehmern und ihren Arbeitgebern, nicht einen Großteil der Einheitskosten aufgebürdet. Die Milliardentransfers für den Osten wurden auf diese Weise einseitig auf den Faktor Arbeit konzentriert, das ohnehin bestehende Wettbewerbsproblem deutscher Arbeitsplätze verschärfte sich weiter.

Der Ausbau des Sozialstaats war in Westdeutschland schon lange kein Thema mehr. Zwar wurden noch das Erziehungsgeld, das Babyjahr für Frauen bei der Rentenversicherung und die umstrittene Pflegeversicherung eingeführt. Doch gleichzeitig sahen sich die Christliberalen seit ihrem Regierungsantritt 1982 in allen drei Versicherungszweigen, der Arbeitslosen-, der Renten- und der Krankenversicherung, immer wieder zu kräftigen Sparaktionen gezwungen.

So bekommen Arbeitslose ohne Kinder mittlerweile nur noch 60 statt 67 Prozent ihres letzten Nettoeinkommens, der entsprechende Satz für Arbeitslosenhilfe wurde von 58 auf 53 Prozent gekürzt. Mit deutlich weniger Geld müssen auch Umschüler auskommen, teilweise haben sie nur noch Anspruch auf Darlehen. Wer seinen Job selbst kündigt oder seine Kündigung verschuldet, bekommt heute drei Monate lang kein Arbeitslosengeld. Zudem wurde die Mißbrauchskontrolle ebenso wie die Zumutbarkeitsregel verschärft. Der Einspareffekt dieser und anderer Maßnahmen: allein für 1996 rund 30,5 Milliarden Mark und damit 2,3 Beitragspunkte. Das hätte denn auch ausgereicht, den Beitragssatz bei etwa 4,3 Prozent und damit auf dem Stand von 1987 zu stabilisieren. Statt dessen erhöhte ihn die Koalition 1991 um mehr als die Hälfte auf 6,8 Prozent; seit 1993 beträgt er 6,3 Prozent.

Das Geld wird dringend im Osten gebraucht. Dort betrug das Defizit der Bundesanstalt im vergangenen Jahr rund 32 Milliarden Mark. Den größten Teil davon - rund 25 Milliarden Mark - brachten die westdeutschen Beitragszahler auf: Um so viel überstiegen in den alten Bundesländern die Einnahmen die Ausgaben. Der Bund steuerte lediglich rund sieben Milliarden Mark bei.

Auch in der Rentenversicherung waren drastische Einschnitte nicht tabu. So müssen Rentner heute die Hälfte der Krankenkassenbeiträge selbst zahlen. Bis 1982 war die Krankenversicherung für Rentner umsonst und für die Versicherung teuer: Allein 1996 spart sie dank dieser Neuregelung rund 21 Milliarden Mark. Auch die Rentenreform von 1989, die seit 1992 in Kraft ist, soll den Ausgabenanstieg deutlich bremsen. Statt wie bisher entsprechend den Bruttolöhnen zu klettern, steigen die Altersbezüge seither nur noch mit dem Nettoeinkommen der Beschäftigten. Zudem wurde die stufenweise Heraufsetzung der Altersgrenze für Männer und Frauen auf 65 Jahre nach dem Jahr 2000 beschlossen. Ohne diese Maßnahmen, so zeigen Modellrechnungen, würde der Beitragssatz im Jahre 2030 auf 36 Prozent statt, wie nun geschätzt, auf 26 Prozent steigen. Daß auch 26 Prozent zuviel sind, darüber sind sich Sozialpolitiker aller Parteien einig.

Mit ihrer Reform hatten sie gehofft, ein paar Jahre lang Ruhe bei den Rentenfinanzen zu haben - immerhin werden allein in diesem Jahr 18,6 Milliarden Mark eingespart. Statt dessen kommen nun ständig neue Hiobsbotschaften. Denn die Wiedervereinigung hat auch die Vorausberechnungen aus dem Jahr 1989 obsolet gemacht. Trotz hoher Arbeitslosigkeit waren die Einnahmen der Rententräger im Westen höher als die Ausgaben. Im Osten hingegen betrug das Defizit im vergangenen Jahr fast sechzehn Milliarden Mark. Im kommenden Jahr ist nach heutigem Stand eine Beitragserhöhung nötig, um die laufenden Ausgaben zu finanzieren und die angeknabberten Reserven aufzufüllen. Den Beitragssprung auf über zwanzig Prozent aber will die Bonner Koalition um jeden Preis vermeiden. Deshalb suchen die Politiker hektisch nach weiteren Sparmöglichkeiten.

Dazu zählt auch die am 12. Februar zwischen Kanzler Helmut Kohl, den Gewerkschaften und Arbeitgebern getroffene Vereinbarung, der Praxis der Frühverrentung älterer Arbeitsloser durch Anhebung der Altersgrenze einen Riegel vorzuschieben. Zwar kann nach diesem Plan jeder ältere Arbeitslose wie bisher mit sechzig in Rente gehen, nur muß er dann entweder erhebliche Abschläge von seiner Rente hinnehmen oder freiwillige Zusatzbeiträge leisten. Der Nachteil: Kurzfristig läßt sich aufgrund weitreichenden Vertrauensschutzes so kein Geld sparen. Statt aber - wenn auch nur vorübergehend - den Bundeszuschuß zu erhöhen, muß Bundesarbeitsminister Norbert Blüm nun nach kurzfristigen Sparmöglichkeiten suchen.

Auch im dritten Zweig der Sozialversicherung, der Krankenversicherung, hatte das Nehmen stets Vorrang vor dem Geben. Norbert Blüms Gesundheitsreformgesetz von 1988 hielt allerdings gerade mal ein Jahr. Schon 1990 legten Ärzte, Kliniken, Arznei- und Heilmittelhersteller bei den Ausgaben wieder zu. Der erwartete Spareffekt, vierzehn Milliarden Mark, war schnell verpufft und ging fast ausschließlich zu Lasten der Versicherten.

Generell ist die Krankenversicherung mit der permanenten Reform dennoch nicht schlecht gefahren. Zwar sind die Ausgaben nicht oder nur punktuell gesunken, sie sind aber auch nicht nennenswert gestiegen. So ist der Ausgabenanteil der gesetzlichen Kassen am Bruttosozialprodukt mit knapp sechs Prozent seit zwanzig Jahren ziemlich konstant. Eine Kostenexplosion hat es jedenfalls nicht gegeben. Soweit eine solche drohte, haben die Eingriffe des Gesetzgebers das verhindert. Nur hielten sie meist nicht lange.

Beim Gesundheitsstrukturgesetz von 1992, das Horst Seehofer auf den Weg brachte, sah es zunächst besser aus. Während die Krankenkassen 1992 bei Gesamtausgaben von 210 Milliarden Mark noch ein Defizit von rund 10 Milliarden Mark aufwiesen, wandelte sich dies 1993 in ein Plus gleicher Größenordnung um. Das dritte Jahr nach der Reform schloß freilich schon wieder mit einem Minus von etwa 8 Milliarden Mark ab. Davon gehen allerdings 5 Milliarden zu Lasten der Politik, die den Kassen seit 1995 erneut indirekt versicherungsfremde Lasten aufgebürdet hat. Die Bundesanstalt für Arbeit zahlt für Arbeitslose neuerdings geringere Krankenbeiträge; außerdem müssen die Kassen für Krankengeldbezieher höhere Beiträge an die Rentenund Arbeitslosenversicherung abführen. Trotz richtiger Ansätze hat Seehofers Reform nicht gegriffen, weil sie zum Teil halbherzig war.

Das Hauptproblem der gesetzlichen Krankenversicherung sind indes nicht die Ausgaben, sondern die Einnahmen. Weil hohe Arbeitslosigkeit bei gleichbleibendem Beitragssatz zu Einnahmeausfällen führen würde, müssen die Beiträge angehoben werden, um die notwendigen Ausgaben zu finanzieren. Während der durchschnittliche Satz 1980 noch bei 11,37 Prozent lag, erreichte er 1992 die Marke von 13,42. Der Berliner Gesundheitsforscher Hagen Kühn errechnete: "Wären Beschäftigung und Lohnquote in den achtziger Jahren konstant geblieben, würde der heutige Beitragssatz exakt dem des Jahres 1980 entsprechen."

Sparmöglichkeiten gibt es gleichwohl noch genug. Solange ambulante und stationäre Behandlung nicht enger verzahnt sind, versuchen beide Seiten, aus dem System herauszuholen, was nur geht. Und auch der Nutzen der medizinischen Versorgung könnte stärker kontrolliert werden. Nach amerikanischen Studien sind bis zu dreißig Prozent der diagnostischen und therapeutischen Leistungen überflüssig, teilweise sogar schädlich. Selbst wenn nur fünfzehn Prozent dieser Leistungen in der Bundesrepublik wegfielen, könnten die Krankenkassen rund 38 Milliarden Mark sparen und die Beiträge um zwei Prozentpunkte senken.

So marode und reformunfähig, wie vielfach behauptet, ist der bundesrepublikanische Sozialstaat also keineswegs. Und auch die Tatsache, daß dank der sozialen Sicherungssysteme der Absturz in die Armut für weite Teile der ostdeutschen Bevölkerung verhindert worden ist, spricht für ihre Anpassungsfähigkeit. Die aber ist in der Tat gefährdet, wenn sich Politiker und Interessenvertreter weiter um die Beantwortung der Frage drücken, wer in Zukunft für die Kosten der Wiedervereinigung aufkommen soll: die Gesamtgesellschaft oder, wie bisher, vor allem die Solidargemeinschaft der Versicherten. Sollte sich die Mehrheit für den zweiten Weg entscheiden, dann allerdings ist eines klar: Eine soziale Sicherung, wie sie im Westteil der Republik aufgebaut worden ist, ist für Gesamtdeutschland auf absehbare Zeit nicht finanzierbar.

Quelle:DIE ZEIT/Ausgabe Nr. 18 vom 26.4.1996 (c) beim Autor/DIE ZEIT. All rights reserved