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Die Positivliste für Medizin ist nötiger denn je


Griff zur bitteren Pille

Horst Seehofer war einst ausgezogen, unser krankes Gesundheitssystem zu kurieren. Sein zunächst mit Beifall bedachter Kampf gegen Ärzte, Krankenkassen und Pharmahersteller aber erweist sich zunehmend als verfehlte Therapie: Die ohnehin hohen Kassenbeiträge steigen weiter, die Ärzte verschreiben immer mehr und immer häufiger Medikamente, an den Kosten müssen sich die Kranken zusehends selbst beteiligen.

Schon kursiert unter den Beitragszahlern das böse Wort von der "Zweiklassenmedizin" und schimpfen die Kassen über eine "Abkassierungsorgie" des Ministers.

Der Bundesgesundheitsminister


Seehofers Reformen fordern dabei eine Zuzahlung auch für solche Medikamente, auf die chronisch Kranke ihr Leben lang angewiesen sind. Das trifft dann viele Millionen Patienten: Zuckerkranke sind nun einmal auf Insulin, Rheumatiker auf Kortison oder NSAID, die nichtsteroidalen Entzündungshemmer, angewiesen; Hypertoniker können auf blutdrucksenkende Mittel, Depressive und Nervenkranke auf Psychopharmaka, Tumorkranke auf Zytostatika und Hormone schlichtweg nicht verzichten. Sie alle zahlen dabei nicht nur für die eigene Linderung oder Heilung, sondern auch für den Fortschritt in Medizin und Pharmazie. Doch wenn wir unter diesen Bedingungen den Fortschritt bei Arzneimitteln wollen, steuern wir unaufhaltsam auf eine Zweiklassenmedizin zu einerseits locken die Kassen ihre Kunden mit allerlei Firlefanz, andererseits muß der Versicherte sich ausgerechnet an lebenswichtigen Mitteln selbst beteiligen.

Eine Auflistung all jener Arzneimittel muß darum her, die für chronisch Kranke lebenswichtig sind. Und diese dürfen nicht durch Zuzahlung zur Last werden. Experten des Instituts für Arzneimittel in der Krankenversicherung (IAK) sollten diese Liste von Heilmitteln aufstellen, bezogen auf bestimmte Krankheiten; jeder pflichtversicherte Kranke müßte sie ohne Zuzahlung neben seinen Kassenbeiträgen erhalten können.

Die Aufstellung einer solchen Positivliste für verordnungsfähige Arzneimittel hat Horst Seehofer im übrigen in Zeiten, da er noch mutig war, selbst angeordnet. Sein Mut vor Thronen und Interessengruppen hat den Gesundheitsminister, von Kanzler Kohl als Gesundheitsmeister gerühmt, leider längst verlassen: Der Minister hat die geplante Liste zerrissen, die Schnipsel der Pharmaindustrie zum Geschenk gemacht und öffentlich erklärt, daß er den Wunsch der Bürger nach allen möglichen Tablettchen oder Tröpflein halt respektieren müßte, auch wenn dadurch Milliarden Mark für Medikamente mit fehlender oder fraglicher Wirkung aus dem Fenster geworfen werden.

Die Indikationenliste für wirksame Heilmittel verführt, anders als der Griff nach solchen populären und unwirksamen Mittelchen, mit Sicherheit nicht zum Mißbrauch. Denn sie listet bittere Pillen auf. Kein Patient wird zum Insulin greifen, nur weil es auf dem Markt ist. Kein Mensch nimmt ohne Grund Chemotherapeutika. Wirksame Arzneimittel haben nun einmal neben der erwünschten auch unerwünschte Nebenwirkungen. Viele der wegen banaler Störungen geschluckten Pillen oder Tropfen wie Echinacin aber haben überhaupt keine Wirkung auf Krankheiten, allenfalls auf den Geldbeutel. Und auch um den geht es.

Die Patienten für diese bitteren Pillen zusätzlich zur Kasse zu bitten ist also unsinnig, ja wenig menschlich. Das kann die vielbeschworene Solidargemeinschaft der Versicherten noch teuer zu stehen kommen, denn die Folgen eines unbehandelten wirklichen Leidens sind nicht preiswert. Auch wenn Horst Seehofer inzwischen davon nichts mehr hören will: Wir brauchen die Positivliste für Arzneimittel nötiger denn je. Sonst wird im Gesundheitswesen weiter am falschen Ende therapiert.

Hans Harald Bräutigam

Quelle: DIE ZEIT, Ausgabe Nr. 43 vom 18.10.1996, (c) beim Autor/DIE ZEIT. All rights reserved